Song: Tage Des Niedergangs Leseprobe
Viewed: 73 - Published at: 3 years ago
Artist: Andreas Schnell
Year: 2013Viewed: 73 - Published at: 3 years ago
Im Himmel spiegelten sich die Feuer wider, die ich vorher noch vom Fenster meiner Wohnung aus hatte sehen können, und die Geräusche des Chaos drangen durch die Häuserschluchten zu mir durch. Ich hatte Frankfurt bei Nacht immer geliebt, denn obwohl die Stadt so groß und dicht bevölkert war, konnte man zu später Stunde durch die Straßen abseits der Hauptverkehrsadern spazieren, ohne auf viel Trubel zu stoßen.
Nicht selten hatte ich bei nächtlichen Spaziergängen keine Menschenseele getroffen und der Illusion nachhängen können, ganz allein zu sein. Wenn man wusste, dass die Realität anders aussah und hinter den geschlossenen Fenstern und Türen Menschen lebten, war das ein gutes Gefühl.
Jetzt hätte ich mich gefreut, Menschen anzutreffen, echte Menschen. In diesem Moment, wo ich wusste, dass ich allein war und die Häuser, die ich passierte, nicht mehr waren als leere Kästen, in denen einst Leben geherrscht hatte, fühlte ich mich hundeelend, alleingelassen und verängstigt. Auch der Gedanke an die Glock in meiner Hosentasche konnte mich dieses Gefühles nicht berauben.
Obwohl die aufkommende Paranoia vermutlich meine geringste Sorge war, drehte ich mich immer wieder nach allen Seiten um und rechnete jeden Moment damit, angefallen zu werden. Wenn nicht von den vermeintlich Toten, dann von einem unsichtbaren Bösen, das mich in ein Monster wie Jodie, Walter Thurau oder Ingeborg Barth verwandeln würde.
Als ich an einer dunklen Glasfront vorbeilief und mein Konterfei unter der Werbung eines Wettbüros sah, erschrak ich mich dermaßen, dass ich beine meine Pistole gezogen und in die Scheibe geschossen hätte. Mein Spiegelbild hätte ich sicherlich erlegt, damit aber auch genug Aufmerksamkeit erregt, um alle Monstrositäten in einem Kilometer Umkreis auf mich aufmerksam zu machen.
Mein Herz schlug bis zum Anschlag und ich ließ mich neben eines der wenigen geparkten Autos nieder. So fühlt sich also eine Panikattacke an, dachte ich und versuchte mich auf die vor mir liegende Aufgabe zu konzentrieren. Die Hälfte des Weges hatte ich bereits geschafft. Ich musste nur noch die vor mir liegende Grünanlage durchqueren und wäre dann vor Verenas Wohnung angekommen. Die Ablenkung half ein wenig, jedoch nicht in dem Maße, in dem ich es mir erhofft hatte.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und scrollte durch mein Adressbuch, bis ich den Eintrag für Vasily gefunden hatte. Ein paar Worte mit einem Freund zu wechseln wäre jetzt ein dringend notwendiger Energieschub und vielleicht war er gar nicht so weit entfernt. Vielleicht würde er vorbeikommen und mir helfen. Alles unwahrscheinlich, aber in diesem Moment wollte ich auch das Unmögliche denken können.
Tatsächlich erwartete ich, dass ich direkt auf den Anrufbeantworter sprechen durfte, aber stattdessen hörte ich ein Freizeichen und erlaubte mir ein optimistisches Stirnrunzeln.
»Ja?«, hörte ich nach einigen Sekunden am anderen Ende der Leitung. Die Verbindung war schlecht. Es rauschte ununterbrochen und ich konnte durch den Lautsprecher des Telefons hören, das es auf der anderen Seite hektisch und laut zuging. Es wurden Befehle, die ich nicht verstehen konnte, durch die Gegend gebrüllt.
»Oh Mann, Vasily. Du glaubst nicht wie froh ich bin, dich zu hören. Ich dachte du … würdest nicht dran gehen.«
»Hier ist Unteroffizier Froh«, sagte die Stimme. Dann folgte eine längere Pause. »Ich kenne keinen Vasily.«
»Das ist sein Telefon«, sagte ich und um eine Bestätigung meiner eigenen Worte zu erhalten, schaute ich noch mal auf mein Display, um die Nummer zu kontrollieren.
»Tut mir leid, Mann«, sagte Unteroffizier Froh. »Dieser Vasily ist tot. Wir haben hier alle möglichen Dinge, die noch zu gebrauchen sind, auf einen Stapel geschmissen. Da hab ich das Handy her.«
Ich wollte etwas sagen, ihm entgegenbrüllen, dass das unmöglich wahr sein konnte, aber ein dicker Kloß in meinem Hals ermöglichte mir nicht mehr als ein lautes Schlucken.
»Wenn sie können, kommen Sie hier her«, sagte Unteroffizier Froh. »Wir haben ein Basislager in der Nähe des Osthafens errichtet. Alles Gute, Mann.« Dann legte er auf.
Für einige Sekunden hielt ich das Handy noch an meinem Ohr. Ich hoffte, dass es wieder klingeln und Vasily dran sein würde. »Ha ha. Alles nur ein Spaß. Ich bin noch am Leben.«
Aber weder klingelte es, noch schaffte ich es, ein wenig Hoffnung in mir zu wecken. Natürlich wäre es möglich, dass Vasily sein Handy verloren hatte und es irgendwie dort auf diesem Stapel bei Unteroffizier Froh gelandet war, aber wie wahrscheinlich war das?
Ein bekackter Scheißname. Niemand ist hier froh, dachte ich und steckte das Handy wieder weg. Zumindest hatte das Gespräch dafür gesorgt, dass meine aufkommende Panik im Keim erstickt worden war. Wenn die ganze Welt in der Kloake des Chaos versank, musste man versuchen, in den kleinsten Kleinigkeiten das Gute zu sehen.
Über das Autodach hinweg warf ich einen Blick auf die vor mir liegende Grünanlage, dem einzigen Hindernis zwischen mir und Vera. Genauso gut hätte ich aber auch versuchen können, durch eine massive Mauer hindurchzusehen. Schon bei Tag bildeten die Bäume und Büsche einen wirkungsvollen Sichtschutz. In der Nacht war es schier unmöglich, irgendetwas auszumachen. Bewegung gab es überall, der Wind ließ die Äste der Bäume und die Büsche in einer synchronen Bewegung miteinander verschmelzen. Selbst wenn sich jemand dahinter bewegt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, das zu erkennen.
Ich zog die Pistole aus der Tasche, hielt sie so locker wie irgendmöglich bereit und bewegte mich langsam in Richtung der Grünanlage. Als ich an die Bäume auf wenige Schritte herangekommen war, hörte ich ein Geräusch von weiter links. Sofort überbrückte ich die Distanz zu dem schützenden Buschwerk mit ein paar schnellen Schritten und suchte Deckung hinter dem Stamm eines alten und hochgewachsenen Baumes.
Als auch nach einigen Momenten die Geräusche gleichbleibend waren und sich nicht näherten, war ich mir sicher, nicht entdeckt worden zu sein und drehte meinen Kopf hinter dem Baum hervor, um etwas ausmachen zu können. Etwa fünfzig Meter weiter gab es einen kleinen Stand, der tagsüber Zeitungen und Getränke verkaufte. Natürlich wäre dieser mitten in der Nacht – selbst ohne das momentane Chaos – geschlossen gewesen. Trotz allem konnte ich sehen, wie jemand davorstand und Verursacher der Geräusche war.
Im Dunkeln waren keine Details zu erkennen, aber ich glaubte einen Mann zu sehen, der in einer Zeitung oder einem Magazin blätterte. Die Holzbretter, die vermutlich dazu gedacht waren, die Front des Standes vor Einbrüchen zu schützen, lagen einige Meter entfernt und in zwei Stücke geschlagen.
Ich fragte mich, warum jemand mitten in der Nacht, ohne nennenswertes Licht, zudem noch bei dem momentan galoppierenden Wahnsinn, einen Zeitungsstand aufbrach, um in irgendeinem Magazin blättern zu können. Je länger ich die schemenhafte Szenerie beobachtete, umso weniger Antworten kamen mir in den Sinn.
Ich erinnerte mich plötzlich an eine Diskussion während meiner Studienzeit, in der ich mit einem Kommilitonen über die verschiedenen Arten der Wahrnehmung debattiert hatte. Wir kamen irgendwann auf die sogenannten Mechanorezeptoren, die auf Vibrationen reagierten und bei manchen Menschen so gut ausgebildet waren, das sie Bewegungen – wenn auch eher unbewusst – wahrnahmen, die hinter einem stattfanden.
Danke Mechanorezeptoren! Ich drehte mich um und konnte einen hageren Mann sehen, der sich offensichtlich nahezu lautlos an mich herangeschlichen hatte. Er war nur noch zwei Meter von mir entfernt und auch wenn es mir vollkommen absonderlich vorkam, meinte ich Überraschung in seinem Gesicht erkennen zu können.
Er trug zahlreiche Verletzungen am Körper: Stich- und Schusswunden, Abschürfungen und Knochenbrüche, wie man an seiner merkwürdigen verdrehten Hand erkennen konnte. Sein eines Auge war durch einen Haufen dicker Maden ersetzt worden und seine linke Wange hing in einem bläulichen Hautfetzen nach unten. Er gehörte definitiv zu den Typen, die den Löffel einfach nicht abgeben wollten. Ich beschloss seine überstrapazierte Lebenszeit auf Null zu verkürzen, riss meine Pistole nach oben und feuerte.
Die erste Kugel traf Herr Madenauge in die Schulter und führte dazu, dass er zur Seite gerissen wurde und einen Schritt nach hinten taumelte. Schmerzen schien er keine zu spüren, genau wie es bei den anderen der Fall gewesen war. Sofort drehte er sich wieder zu mir um, schrie wie ein wildgewordener Affe – wobei er sich so echauffierte, dass er sich ein Stück seiner eigenen Zunge abbiss – und kam weiter auf mich zu.
Die vier nächsten Schüsse, in diesem Moment dachte ich nicht an das Einsparen von Munition, verpasste ich meinem Gegenüber mitten ins Gesicht. Vorher war es nicht sonderlich ansehnlich gewesen, nun war es schlicht und ergreifend nicht mehr vorhanden. Als wollte er den Warschauer Kniefall Willy Brandts imitieren, sank er nach unten, blieb noch eine Sekunde aufrecht, nur um dann seitlich umzufallen und sich nach zwei weiteren Zuckungen nicht mehr zu bewegen.
Ich drehte mich sofort um und war der festen Überzeugung, dass der Typ an dem Zeitungsstand nun auch auf mich zukam. Aber er war weg. Ich schaute hektisch in alle Richtungen, doch außer den Bäumen und Büschen war nichts zu sehen. Auch wenn ich diese Klippe umschifft hatte, hielt ich es für eine schlechte Idee, zu lange an Ort und Stelle zu bleiben. Wenn irgendwelche Freunde des gesichtslosen Willy-Brandt-Imitators in der Nähe waren, hatten sie die Schüsse unter Garantie gehört und würden – so schnell sie ihre toten Beine tragen konnten – hierherkommen.
Das Adrenalin flaute wieder ab und die Angst kroch langsam an mir herauf wie die Gischt der herannahenden Flut. Ich steckte die Glock weg und rannte so schnell es mir möglich war in Richtung Veras Haus, das direkt an der Straße hinter der Grünanlage lag. Nachdem ich wie Edwin Moses in seinen besten Tagen über eine nahe stehende Parkbank gesprungen war und mir meine Hose an den dahinterliegenden Dornenbüschen aufgerissen hatte, stolperte ich auf die enge Straße und konnte direkt vor mir die Hausnummer 42 sehen.
Außer Atem erreicht ich die Haustür, die selbstverständlich verschlossen war. Im Normallfall hätte ich die Klingel von Vera im Schlaf gefunden. Erster Stock, dritter Knopf von unten. In meiner jetzigen Verfassung – ich rechnete jeden Moment damit, ungebetenen Besuch zu bekommen – legte ich keinen besonderen Wert auf Feinmotorik und drückte einfach alle Knöpfe auf einmal.
Ich drehte mich um und auch wenn ich nichts Konkretes sehen oder hören konnte, war ich mir sicher, dass im nächsten Moment ein paar hässliche Gesichter und vom Tode verformte Körper hinter den Bäumen und Büschen hervortreten würden. Ich drückte erneute alle Knöpfe und rief den letzten Funken klaren Menschenverstand wach, um nicht wie ein Verrückter gegen die Tür zu treten und nach Hilfe zu schreien.
Es geschah nichts. Kein Summen an der Tür, kein Ton aus der Gegensprechanlage und kein Fenster das sich öffnete. Ich drehte mich wieder um. Nichts! Ich ging einen Schritt von der Tür weg und wägte meine Optionen ab. Ich konnte hier stehenbleiben und auf die Ankunft der lebenden Toten warten, einfach wegrennen und davon ausgehen, dass Vera nicht da, tot oder Schlimmeres war, oder ich konnte versuchen, die Tür zu öffnen. Für einige Momente tippelte ich unruhig von einem Fuß auf den anderen, dann entschied ich mich für das Öffnen der Tür.
Ohne länger zu zögern ging ich einen weiteren Schritt zurück, legte den Rucksack ab und warf mich dann mit meinem vollen Gewicht gegen den Eingang. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meiner Schulter aus, als von der Tür abprallte und mich zwei Meter weiter hinten auf dem harten Bordstein wiederfand. Au!
Hinter den blinkenden Sternchen, die sich in meinem Blickfeld langsam wieder zurückentwickelten, konnte ich den furchtbar wichtigtuerischen Hausmeister sehen, der Vera und mir erklärte, dass die Einbrüche jetzt ein Ende nehmen würden, da die Eingangstür verstärkt worden war. Das war vor etwa einem Jahr gewesen und verdammt, niemand konnte von mir verlangen, jede Kleinigkeit im Gedächtnis zu behalten. Meine Schulter war aber definitiv anderer Meinung und bekundete dies mit einer weiteren Schmerzwelle.
»Drauf geschissen«, sagte ich und rappelte mich wieder auf.
»Krach habe ich jetzt genug gemacht.« Ich zog meine Waffe, zielte auf das Schloss und gab zwei Schüsse ab. Es war so laut, dass mir die Ohren klingelten, aber die Tür war offen. Ich setzte meinen Rucksack wieder auf, gab der Tür einen ordentlichen Stoß und hastete die Treppen in den ersten Stock hinauf. In der Zwischenetage riskierte ich einen Blick aus dem Flurfenster, um zu sehen, ob sich schon das Heer der Beißlustigen versammelt hatte, aber es war niemand zu sehen.
Mit leicht erhöhtem Puls und einen tiefen Atemzug später erreichte ich die Eingangstür zu Veras Wohnung. Ich war einige Monate nicht mehr hier gewesen, aber es hatte sich nichts verändert. Auf dem Boden lag die Fußmatte mit dem obligatorischen „Willkommen“-Schriftzug. In der Mitte der Tür, eine Handbreit unter dem Spion, war eine übergroße Rosenblüte aus Plastik befestigt.
Ich klopfte gegen die Tür, ein wenig lauter und öfters als ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Einen Augenblick nachdem mein Klopfen verebbt war, hörte ich im Inneren der Wohnung ein Poltern. Es hatte sich angehört, als ob jemand etwas fallengelassen oder umgeworfen hatte. Sofort startete mein Kopfkino und ich sah Vera, wie sie sich in eines dieser Monster verwandelt hatte. Sie würde die Tür aufreißen, mein anfängliches Erstaunen ausnutzen und mir in einer tödlichen Umarmung das Lebenslicht ausblasen.
In Erwartung der Erfüllung meiner Vision ging ich einen Schritt zurück und griff nach der Pistole in meiner Tasche. Eine Weile stand ich einfach da und ließ das angespannte Knirschen meiner Zähne über mich ergehen. Als aber auch nach einigen Sekunden nichts passierte und keine Geräusche mehr aus dem Inneren zu vernehmen waren, schob ich das vermeintliche Poltern auf meinen überreizten Verstand.
»Vera?«, sagte ich, klopfte erneut gegen die Tür. »Hier ist Karol. Mach auf.« Dann legte ich mein Ohr gegen das Holz, die Plastikrosenblüte direkt vor meinen Augen.
Ich hörte das charakteristische Quietschen der Wohnzimmertür, das sich, seit ich Vera kannte, von einem sanften Knarren zu einem Fingernägel-auf-Tafel-Kreischen entwickelt hatte. Natürlich hatte ich die Scharniere nie ölen dürfen und natürlich hatte sie ihr festes Vorhaben, es selbst zu tun, nie in die Tat umgesetzt.
»Bitte Vera«, rief ich und klopfte erneut gegen die Tür, drei Mal und nicht so laut wie zuvor. »Ich bin hier um dir zu helfen. Lass mich rein.«
Ich hörte Schritte, die langsam näher kamen und das Fehlen von animalischen Lauten oder Stöhnen ließ mich Hoffnung schöpfen. Die Geräusche endeten direkt hinter der Tür und ich trat einen Schritt zurück, sodass Vera mich im Spion erkennen konnte. Ich war mir sicher, dass sie durchschaute.
Es dauerte eine Weile, dann hörte ich Vera hinter der geschlossenen Tür: »Karol?« Das Zittern konnte ich trotz der geringen Lautstärke wahrnehmen.
»Ja«, antwortete ich. »Ich bin es. Jetzt mach endlich die Tür auf.«
Ich konnte das Drehen des Schlüssels hören und wie die Vorhängekette abgenommen wurde. Dann sah ich den Türspalt und wie Licht aus Veras Wohnung in den Hausflur fiel. Ich wartete nicht, bis die Tür komplett geöffnet war, schob sie auf und ging mit zwei schnellen Schritten hinein. Ich schloss sofort wieder die Tür, drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und legte die Kette vor. Ich hatte das Gefühl, dass mit ein zentnerschwerer Brocken von der Schulter fiel. Ich war am Leben, Vera war am Leben.
Ich drehte mich zu Vera um und noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, fiel sie mir um den Hals und drückte sich gegen mich. Ich konnte die Hitze ihres Körpers spüren, das schwere Atmen hören und den süßen Geruch aus Schweiß und einem zweifelsohne teuren Duftwässerchen riechen. Ich erwiderte die Umarmung und genoss sie soweit es mir in diesem Moment möglich war. Nach einer Weile packte ich sie sanft an der Schulter und schob sie – ohne sie loszulassen – ein Armeslänge von mir weg. Obwohl sie eingeschüchtert war, die Angst quoll ihr geradezu aus jeder Pore, war sie so wunderschön wie eh und je.
Ihre dunklen Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem französischen Zopf gebunden, der ihr bis zu den Schulterblättern reichte. An den vereinzelt herauslugenden Strähnen konnte man erkennen, dass sie die Haare schon mindestens seit den frühen Morgenstunden so hatte. Selbst für Vera schien es Momente zu geben, in denen ein perfektes Äußeres nicht das Wichtigste war. Sie trug eine Jeans und ein helles T-Shirt, auf dessen linker Seite ein aufgesticktes „D&G“ prangerte. Die leicht gerötete Haut spannte sich über ihre hohen Wangenknochen, ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie vor kurzem geweint hatte.
»Ich bin so froh, dass es dir gut geht«, sagte ich und zog sie wieder an mich.
»Es ist so schrecklich«, schluchzte Vera. Sie verfiel in diesen hektischen Plauderton, den sie immer an den Tag legte, wenn sie etwas fürchterlich aufregte. Dabei sprach sie jedes Wort ein wenig schneller aus als das vorige, bis alles schließlich in einem hellen Gekreische endete, das kaum mehr verständlich war. »Überall sterben Menschen. Es wird geschossen und ich bin hier ganz alleine. Alle sind weg. Das ganze Haus ist wie leer gefegt, nur von dem verrückten Typen im dritten Stock höre ich so komische Geräusche. Wie ein Tier. Ich habe Angst, Karol. Was ist hier nur los?«
Wie soll ich das erklären? Ich habe selbst keine Ahnung was passiert, dachte ich und zuckte mit den Schultern. Ohnehin war ich mir sicher, dass Vera keine allumfassende Erklärung wollte oder erwartete. Sie wollte hören, dass alles wieder gut wird.
»Die Welt scheint verrückt geworden zu sein«, sagte ich. »Und ich weiß, dass wir hier so schnell wie möglich verschwinden müssen.«
»Von hier weg? Warum? Wohin?«
»In der Nähe des Osthafens gibt es ein Lager des Militärs. Ich denke dort, sind wir vorerst am sichersten.«
»Am Osthafen?«, fragte Vera. »Woher weißt du das?«
»Von Unteroffizier Froh!«
»Von wem?«
»Unwichtig«, sagte ich. »Pack nur das Nötigste ein, wir müssen los.«
Ich war einigermaßen verdutzt, dass Vera sich beinahe augenblicklich in Bewegung setzte, um genau das zu tun, was ich ihr gesagt hatte. In unserer fünfjährigen Beziehung – die vor etwa einem halben Jahr ihr vorläufiges Ende gefunden hatte – war sie stets darum bemüht gewesen, die Hosen anzubehalten und den Ton anzugeben. Meine Entscheidungsgewalt hatte sich seinerzeit darauf beschränkt, auf welchen Plätzen wir im Kino saßen oder ob es den 1994er oder 1996er Rotwein zum Abendessen gab. Während Vera in ihrem Schlafzimmer verschwand, stand ich mit meinen Händen in die Hüften gepresst da und genoss das Schauspiel.
Als ich meiner Ex dabei zuhörte, wie sie – teils fluchend, teils ihre Klamotten durch die Gegend werfend – zusammenpackte, löschte ich das Licht im Wohnzimmer und schaute in regelmäßigen Abständen aus dem Fenster, um die Straße im Blick zu haben. Alles war ruhig und ich hoffte inständig, dass dies nicht die Ruhe vor dem Sturm war.
Nicht selten hatte ich bei nächtlichen Spaziergängen keine Menschenseele getroffen und der Illusion nachhängen können, ganz allein zu sein. Wenn man wusste, dass die Realität anders aussah und hinter den geschlossenen Fenstern und Türen Menschen lebten, war das ein gutes Gefühl.
Jetzt hätte ich mich gefreut, Menschen anzutreffen, echte Menschen. In diesem Moment, wo ich wusste, dass ich allein war und die Häuser, die ich passierte, nicht mehr waren als leere Kästen, in denen einst Leben geherrscht hatte, fühlte ich mich hundeelend, alleingelassen und verängstigt. Auch der Gedanke an die Glock in meiner Hosentasche konnte mich dieses Gefühles nicht berauben.
Obwohl die aufkommende Paranoia vermutlich meine geringste Sorge war, drehte ich mich immer wieder nach allen Seiten um und rechnete jeden Moment damit, angefallen zu werden. Wenn nicht von den vermeintlich Toten, dann von einem unsichtbaren Bösen, das mich in ein Monster wie Jodie, Walter Thurau oder Ingeborg Barth verwandeln würde.
Als ich an einer dunklen Glasfront vorbeilief und mein Konterfei unter der Werbung eines Wettbüros sah, erschrak ich mich dermaßen, dass ich beine meine Pistole gezogen und in die Scheibe geschossen hätte. Mein Spiegelbild hätte ich sicherlich erlegt, damit aber auch genug Aufmerksamkeit erregt, um alle Monstrositäten in einem Kilometer Umkreis auf mich aufmerksam zu machen.
Mein Herz schlug bis zum Anschlag und ich ließ mich neben eines der wenigen geparkten Autos nieder. So fühlt sich also eine Panikattacke an, dachte ich und versuchte mich auf die vor mir liegende Aufgabe zu konzentrieren. Die Hälfte des Weges hatte ich bereits geschafft. Ich musste nur noch die vor mir liegende Grünanlage durchqueren und wäre dann vor Verenas Wohnung angekommen. Die Ablenkung half ein wenig, jedoch nicht in dem Maße, in dem ich es mir erhofft hatte.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und scrollte durch mein Adressbuch, bis ich den Eintrag für Vasily gefunden hatte. Ein paar Worte mit einem Freund zu wechseln wäre jetzt ein dringend notwendiger Energieschub und vielleicht war er gar nicht so weit entfernt. Vielleicht würde er vorbeikommen und mir helfen. Alles unwahrscheinlich, aber in diesem Moment wollte ich auch das Unmögliche denken können.
Tatsächlich erwartete ich, dass ich direkt auf den Anrufbeantworter sprechen durfte, aber stattdessen hörte ich ein Freizeichen und erlaubte mir ein optimistisches Stirnrunzeln.
»Ja?«, hörte ich nach einigen Sekunden am anderen Ende der Leitung. Die Verbindung war schlecht. Es rauschte ununterbrochen und ich konnte durch den Lautsprecher des Telefons hören, das es auf der anderen Seite hektisch und laut zuging. Es wurden Befehle, die ich nicht verstehen konnte, durch die Gegend gebrüllt.
»Oh Mann, Vasily. Du glaubst nicht wie froh ich bin, dich zu hören. Ich dachte du … würdest nicht dran gehen.«
»Hier ist Unteroffizier Froh«, sagte die Stimme. Dann folgte eine längere Pause. »Ich kenne keinen Vasily.«
»Das ist sein Telefon«, sagte ich und um eine Bestätigung meiner eigenen Worte zu erhalten, schaute ich noch mal auf mein Display, um die Nummer zu kontrollieren.
»Tut mir leid, Mann«, sagte Unteroffizier Froh. »Dieser Vasily ist tot. Wir haben hier alle möglichen Dinge, die noch zu gebrauchen sind, auf einen Stapel geschmissen. Da hab ich das Handy her.«
Ich wollte etwas sagen, ihm entgegenbrüllen, dass das unmöglich wahr sein konnte, aber ein dicker Kloß in meinem Hals ermöglichte mir nicht mehr als ein lautes Schlucken.
»Wenn sie können, kommen Sie hier her«, sagte Unteroffizier Froh. »Wir haben ein Basislager in der Nähe des Osthafens errichtet. Alles Gute, Mann.« Dann legte er auf.
Für einige Sekunden hielt ich das Handy noch an meinem Ohr. Ich hoffte, dass es wieder klingeln und Vasily dran sein würde. »Ha ha. Alles nur ein Spaß. Ich bin noch am Leben.«
Aber weder klingelte es, noch schaffte ich es, ein wenig Hoffnung in mir zu wecken. Natürlich wäre es möglich, dass Vasily sein Handy verloren hatte und es irgendwie dort auf diesem Stapel bei Unteroffizier Froh gelandet war, aber wie wahrscheinlich war das?
Ein bekackter Scheißname. Niemand ist hier froh, dachte ich und steckte das Handy wieder weg. Zumindest hatte das Gespräch dafür gesorgt, dass meine aufkommende Panik im Keim erstickt worden war. Wenn die ganze Welt in der Kloake des Chaos versank, musste man versuchen, in den kleinsten Kleinigkeiten das Gute zu sehen.
Über das Autodach hinweg warf ich einen Blick auf die vor mir liegende Grünanlage, dem einzigen Hindernis zwischen mir und Vera. Genauso gut hätte ich aber auch versuchen können, durch eine massive Mauer hindurchzusehen. Schon bei Tag bildeten die Bäume und Büsche einen wirkungsvollen Sichtschutz. In der Nacht war es schier unmöglich, irgendetwas auszumachen. Bewegung gab es überall, der Wind ließ die Äste der Bäume und die Büsche in einer synchronen Bewegung miteinander verschmelzen. Selbst wenn sich jemand dahinter bewegt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, das zu erkennen.
Ich zog die Pistole aus der Tasche, hielt sie so locker wie irgendmöglich bereit und bewegte mich langsam in Richtung der Grünanlage. Als ich an die Bäume auf wenige Schritte herangekommen war, hörte ich ein Geräusch von weiter links. Sofort überbrückte ich die Distanz zu dem schützenden Buschwerk mit ein paar schnellen Schritten und suchte Deckung hinter dem Stamm eines alten und hochgewachsenen Baumes.
Als auch nach einigen Momenten die Geräusche gleichbleibend waren und sich nicht näherten, war ich mir sicher, nicht entdeckt worden zu sein und drehte meinen Kopf hinter dem Baum hervor, um etwas ausmachen zu können. Etwa fünfzig Meter weiter gab es einen kleinen Stand, der tagsüber Zeitungen und Getränke verkaufte. Natürlich wäre dieser mitten in der Nacht – selbst ohne das momentane Chaos – geschlossen gewesen. Trotz allem konnte ich sehen, wie jemand davorstand und Verursacher der Geräusche war.
Im Dunkeln waren keine Details zu erkennen, aber ich glaubte einen Mann zu sehen, der in einer Zeitung oder einem Magazin blätterte. Die Holzbretter, die vermutlich dazu gedacht waren, die Front des Standes vor Einbrüchen zu schützen, lagen einige Meter entfernt und in zwei Stücke geschlagen.
Ich fragte mich, warum jemand mitten in der Nacht, ohne nennenswertes Licht, zudem noch bei dem momentan galoppierenden Wahnsinn, einen Zeitungsstand aufbrach, um in irgendeinem Magazin blättern zu können. Je länger ich die schemenhafte Szenerie beobachtete, umso weniger Antworten kamen mir in den Sinn.
Ich erinnerte mich plötzlich an eine Diskussion während meiner Studienzeit, in der ich mit einem Kommilitonen über die verschiedenen Arten der Wahrnehmung debattiert hatte. Wir kamen irgendwann auf die sogenannten Mechanorezeptoren, die auf Vibrationen reagierten und bei manchen Menschen so gut ausgebildet waren, das sie Bewegungen – wenn auch eher unbewusst – wahrnahmen, die hinter einem stattfanden.
Danke Mechanorezeptoren! Ich drehte mich um und konnte einen hageren Mann sehen, der sich offensichtlich nahezu lautlos an mich herangeschlichen hatte. Er war nur noch zwei Meter von mir entfernt und auch wenn es mir vollkommen absonderlich vorkam, meinte ich Überraschung in seinem Gesicht erkennen zu können.
Er trug zahlreiche Verletzungen am Körper: Stich- und Schusswunden, Abschürfungen und Knochenbrüche, wie man an seiner merkwürdigen verdrehten Hand erkennen konnte. Sein eines Auge war durch einen Haufen dicker Maden ersetzt worden und seine linke Wange hing in einem bläulichen Hautfetzen nach unten. Er gehörte definitiv zu den Typen, die den Löffel einfach nicht abgeben wollten. Ich beschloss seine überstrapazierte Lebenszeit auf Null zu verkürzen, riss meine Pistole nach oben und feuerte.
Die erste Kugel traf Herr Madenauge in die Schulter und führte dazu, dass er zur Seite gerissen wurde und einen Schritt nach hinten taumelte. Schmerzen schien er keine zu spüren, genau wie es bei den anderen der Fall gewesen war. Sofort drehte er sich wieder zu mir um, schrie wie ein wildgewordener Affe – wobei er sich so echauffierte, dass er sich ein Stück seiner eigenen Zunge abbiss – und kam weiter auf mich zu.
Die vier nächsten Schüsse, in diesem Moment dachte ich nicht an das Einsparen von Munition, verpasste ich meinem Gegenüber mitten ins Gesicht. Vorher war es nicht sonderlich ansehnlich gewesen, nun war es schlicht und ergreifend nicht mehr vorhanden. Als wollte er den Warschauer Kniefall Willy Brandts imitieren, sank er nach unten, blieb noch eine Sekunde aufrecht, nur um dann seitlich umzufallen und sich nach zwei weiteren Zuckungen nicht mehr zu bewegen.
Ich drehte mich sofort um und war der festen Überzeugung, dass der Typ an dem Zeitungsstand nun auch auf mich zukam. Aber er war weg. Ich schaute hektisch in alle Richtungen, doch außer den Bäumen und Büschen war nichts zu sehen. Auch wenn ich diese Klippe umschifft hatte, hielt ich es für eine schlechte Idee, zu lange an Ort und Stelle zu bleiben. Wenn irgendwelche Freunde des gesichtslosen Willy-Brandt-Imitators in der Nähe waren, hatten sie die Schüsse unter Garantie gehört und würden – so schnell sie ihre toten Beine tragen konnten – hierherkommen.
Das Adrenalin flaute wieder ab und die Angst kroch langsam an mir herauf wie die Gischt der herannahenden Flut. Ich steckte die Glock weg und rannte so schnell es mir möglich war in Richtung Veras Haus, das direkt an der Straße hinter der Grünanlage lag. Nachdem ich wie Edwin Moses in seinen besten Tagen über eine nahe stehende Parkbank gesprungen war und mir meine Hose an den dahinterliegenden Dornenbüschen aufgerissen hatte, stolperte ich auf die enge Straße und konnte direkt vor mir die Hausnummer 42 sehen.
Außer Atem erreicht ich die Haustür, die selbstverständlich verschlossen war. Im Normallfall hätte ich die Klingel von Vera im Schlaf gefunden. Erster Stock, dritter Knopf von unten. In meiner jetzigen Verfassung – ich rechnete jeden Moment damit, ungebetenen Besuch zu bekommen – legte ich keinen besonderen Wert auf Feinmotorik und drückte einfach alle Knöpfe auf einmal.
Ich drehte mich um und auch wenn ich nichts Konkretes sehen oder hören konnte, war ich mir sicher, dass im nächsten Moment ein paar hässliche Gesichter und vom Tode verformte Körper hinter den Bäumen und Büschen hervortreten würden. Ich drückte erneute alle Knöpfe und rief den letzten Funken klaren Menschenverstand wach, um nicht wie ein Verrückter gegen die Tür zu treten und nach Hilfe zu schreien.
Es geschah nichts. Kein Summen an der Tür, kein Ton aus der Gegensprechanlage und kein Fenster das sich öffnete. Ich drehte mich wieder um. Nichts! Ich ging einen Schritt von der Tür weg und wägte meine Optionen ab. Ich konnte hier stehenbleiben und auf die Ankunft der lebenden Toten warten, einfach wegrennen und davon ausgehen, dass Vera nicht da, tot oder Schlimmeres war, oder ich konnte versuchen, die Tür zu öffnen. Für einige Momente tippelte ich unruhig von einem Fuß auf den anderen, dann entschied ich mich für das Öffnen der Tür.
Ohne länger zu zögern ging ich einen weiteren Schritt zurück, legte den Rucksack ab und warf mich dann mit meinem vollen Gewicht gegen den Eingang. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meiner Schulter aus, als von der Tür abprallte und mich zwei Meter weiter hinten auf dem harten Bordstein wiederfand. Au!
Hinter den blinkenden Sternchen, die sich in meinem Blickfeld langsam wieder zurückentwickelten, konnte ich den furchtbar wichtigtuerischen Hausmeister sehen, der Vera und mir erklärte, dass die Einbrüche jetzt ein Ende nehmen würden, da die Eingangstür verstärkt worden war. Das war vor etwa einem Jahr gewesen und verdammt, niemand konnte von mir verlangen, jede Kleinigkeit im Gedächtnis zu behalten. Meine Schulter war aber definitiv anderer Meinung und bekundete dies mit einer weiteren Schmerzwelle.
»Drauf geschissen«, sagte ich und rappelte mich wieder auf.
»Krach habe ich jetzt genug gemacht.« Ich zog meine Waffe, zielte auf das Schloss und gab zwei Schüsse ab. Es war so laut, dass mir die Ohren klingelten, aber die Tür war offen. Ich setzte meinen Rucksack wieder auf, gab der Tür einen ordentlichen Stoß und hastete die Treppen in den ersten Stock hinauf. In der Zwischenetage riskierte ich einen Blick aus dem Flurfenster, um zu sehen, ob sich schon das Heer der Beißlustigen versammelt hatte, aber es war niemand zu sehen.
Mit leicht erhöhtem Puls und einen tiefen Atemzug später erreichte ich die Eingangstür zu Veras Wohnung. Ich war einige Monate nicht mehr hier gewesen, aber es hatte sich nichts verändert. Auf dem Boden lag die Fußmatte mit dem obligatorischen „Willkommen“-Schriftzug. In der Mitte der Tür, eine Handbreit unter dem Spion, war eine übergroße Rosenblüte aus Plastik befestigt.
Ich klopfte gegen die Tür, ein wenig lauter und öfters als ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Einen Augenblick nachdem mein Klopfen verebbt war, hörte ich im Inneren der Wohnung ein Poltern. Es hatte sich angehört, als ob jemand etwas fallengelassen oder umgeworfen hatte. Sofort startete mein Kopfkino und ich sah Vera, wie sie sich in eines dieser Monster verwandelt hatte. Sie würde die Tür aufreißen, mein anfängliches Erstaunen ausnutzen und mir in einer tödlichen Umarmung das Lebenslicht ausblasen.
In Erwartung der Erfüllung meiner Vision ging ich einen Schritt zurück und griff nach der Pistole in meiner Tasche. Eine Weile stand ich einfach da und ließ das angespannte Knirschen meiner Zähne über mich ergehen. Als aber auch nach einigen Sekunden nichts passierte und keine Geräusche mehr aus dem Inneren zu vernehmen waren, schob ich das vermeintliche Poltern auf meinen überreizten Verstand.
»Vera?«, sagte ich, klopfte erneut gegen die Tür. »Hier ist Karol. Mach auf.« Dann legte ich mein Ohr gegen das Holz, die Plastikrosenblüte direkt vor meinen Augen.
Ich hörte das charakteristische Quietschen der Wohnzimmertür, das sich, seit ich Vera kannte, von einem sanften Knarren zu einem Fingernägel-auf-Tafel-Kreischen entwickelt hatte. Natürlich hatte ich die Scharniere nie ölen dürfen und natürlich hatte sie ihr festes Vorhaben, es selbst zu tun, nie in die Tat umgesetzt.
»Bitte Vera«, rief ich und klopfte erneut gegen die Tür, drei Mal und nicht so laut wie zuvor. »Ich bin hier um dir zu helfen. Lass mich rein.«
Ich hörte Schritte, die langsam näher kamen und das Fehlen von animalischen Lauten oder Stöhnen ließ mich Hoffnung schöpfen. Die Geräusche endeten direkt hinter der Tür und ich trat einen Schritt zurück, sodass Vera mich im Spion erkennen konnte. Ich war mir sicher, dass sie durchschaute.
Es dauerte eine Weile, dann hörte ich Vera hinter der geschlossenen Tür: »Karol?« Das Zittern konnte ich trotz der geringen Lautstärke wahrnehmen.
»Ja«, antwortete ich. »Ich bin es. Jetzt mach endlich die Tür auf.«
Ich konnte das Drehen des Schlüssels hören und wie die Vorhängekette abgenommen wurde. Dann sah ich den Türspalt und wie Licht aus Veras Wohnung in den Hausflur fiel. Ich wartete nicht, bis die Tür komplett geöffnet war, schob sie auf und ging mit zwei schnellen Schritten hinein. Ich schloss sofort wieder die Tür, drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und legte die Kette vor. Ich hatte das Gefühl, dass mit ein zentnerschwerer Brocken von der Schulter fiel. Ich war am Leben, Vera war am Leben.
Ich drehte mich zu Vera um und noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, fiel sie mir um den Hals und drückte sich gegen mich. Ich konnte die Hitze ihres Körpers spüren, das schwere Atmen hören und den süßen Geruch aus Schweiß und einem zweifelsohne teuren Duftwässerchen riechen. Ich erwiderte die Umarmung und genoss sie soweit es mir in diesem Moment möglich war. Nach einer Weile packte ich sie sanft an der Schulter und schob sie – ohne sie loszulassen – ein Armeslänge von mir weg. Obwohl sie eingeschüchtert war, die Angst quoll ihr geradezu aus jeder Pore, war sie so wunderschön wie eh und je.
Ihre dunklen Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem französischen Zopf gebunden, der ihr bis zu den Schulterblättern reichte. An den vereinzelt herauslugenden Strähnen konnte man erkennen, dass sie die Haare schon mindestens seit den frühen Morgenstunden so hatte. Selbst für Vera schien es Momente zu geben, in denen ein perfektes Äußeres nicht das Wichtigste war. Sie trug eine Jeans und ein helles T-Shirt, auf dessen linker Seite ein aufgesticktes „D&G“ prangerte. Die leicht gerötete Haut spannte sich über ihre hohen Wangenknochen, ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie vor kurzem geweint hatte.
»Ich bin so froh, dass es dir gut geht«, sagte ich und zog sie wieder an mich.
»Es ist so schrecklich«, schluchzte Vera. Sie verfiel in diesen hektischen Plauderton, den sie immer an den Tag legte, wenn sie etwas fürchterlich aufregte. Dabei sprach sie jedes Wort ein wenig schneller aus als das vorige, bis alles schließlich in einem hellen Gekreische endete, das kaum mehr verständlich war. »Überall sterben Menschen. Es wird geschossen und ich bin hier ganz alleine. Alle sind weg. Das ganze Haus ist wie leer gefegt, nur von dem verrückten Typen im dritten Stock höre ich so komische Geräusche. Wie ein Tier. Ich habe Angst, Karol. Was ist hier nur los?«
Wie soll ich das erklären? Ich habe selbst keine Ahnung was passiert, dachte ich und zuckte mit den Schultern. Ohnehin war ich mir sicher, dass Vera keine allumfassende Erklärung wollte oder erwartete. Sie wollte hören, dass alles wieder gut wird.
»Die Welt scheint verrückt geworden zu sein«, sagte ich. »Und ich weiß, dass wir hier so schnell wie möglich verschwinden müssen.«
»Von hier weg? Warum? Wohin?«
»In der Nähe des Osthafens gibt es ein Lager des Militärs. Ich denke dort, sind wir vorerst am sichersten.«
»Am Osthafen?«, fragte Vera. »Woher weißt du das?«
»Von Unteroffizier Froh!«
»Von wem?«
»Unwichtig«, sagte ich. »Pack nur das Nötigste ein, wir müssen los.«
Ich war einigermaßen verdutzt, dass Vera sich beinahe augenblicklich in Bewegung setzte, um genau das zu tun, was ich ihr gesagt hatte. In unserer fünfjährigen Beziehung – die vor etwa einem halben Jahr ihr vorläufiges Ende gefunden hatte – war sie stets darum bemüht gewesen, die Hosen anzubehalten und den Ton anzugeben. Meine Entscheidungsgewalt hatte sich seinerzeit darauf beschränkt, auf welchen Plätzen wir im Kino saßen oder ob es den 1994er oder 1996er Rotwein zum Abendessen gab. Während Vera in ihrem Schlafzimmer verschwand, stand ich mit meinen Händen in die Hüften gepresst da und genoss das Schauspiel.
Als ich meiner Ex dabei zuhörte, wie sie – teils fluchend, teils ihre Klamotten durch die Gegend werfend – zusammenpackte, löschte ich das Licht im Wohnzimmer und schaute in regelmäßigen Abständen aus dem Fenster, um die Straße im Blick zu haben. Alles war ruhig und ich hoffte inständig, dass dies nicht die Ruhe vor dem Sturm war.
( Andreas Schnell )
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