Song: Theoretische Grundlagen 2/3
Viewed: 48 - Published at: 2 years ago
Artist: Markus Heide
Year: 2013Viewed: 48 - Published at: 2 years ago
2.2. Oralität und Literalität
Im Folgenden sollen einige Grundmerkmale und -Begriffe zu Oralität und Literalität beschrieben werden. Folgende Erläuterungen berufen sich dabei hauptsächlich auf Walter J. Ong,28 den bedeutendsten Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Er prägte zudem den Begriff der sekundären Oralität, die in bereits literarisierten Gesellschaften wieder zum Vorschein kommt und später näher betrachtet wird; zuerst jedoch soll die primäre Oralität vorgestellt werden, also die ursprüngliche Form der Oralität, die in allen Gesellschaften vorherrschte, bevor diese Alphabetisierung und Techniken der schriftlichen Fixierung erfuhren.
Grundlegend für das Denken, nicht nur für die Rede ist die Organisation von Gedanken und Wissen mittels Mnemotechniken und Formeln:
"Um in einer primären oralen Kultur das Problem der Konservierung genau formulierter Gedanken effektiv zu lösen, muss sich das Denken in mnemonischen Mustern vollziehen, die auf unmittelbare orale Darbietung zugeschnitten sind. Die Gedanken müssen in der Form von tief rhythmischen ausgewogenen Mustern entstehen, als Wiederholung oder Antithese, Alliterationen und Assonanzen, Epithetons oder in Form von anderen formelhaften Ausdrücken, eingebunden in standardisierte thematische Anordnungen [...], in Gestalt von Sprichwörtern, die jeder kennt und deswegen rasch erinnert.29"
Havelock beschreibt Rhythmus, die zeitliche Wiederkehr und Abwesenheit bestimmter Dinge als die wesentliche Grundlage für jegliches biologisches Lustgefühl; in Musik und Tanz sieht er weitere Indikatoren für seine These.30
Ong stellt weitere Merkmale und Abgrenzungen zur Literalität vor:31
- Eher additiv als subordinierend: Diese Feststellung deckt sich mit der Unterscheidung von gesprochener und schriftlicher Sprache im anschließenden Kapitel: Während in der gesprochenen Sprache die Parataxe, vor allem die Konjunktion „und“ vorherrscht, überwiegen in der schriftlichen Sprache die Hypotaxe und andere komplexe grammatikalische Strukturen.32 Der Grund hierfür liegt laut Ong in der genauer und länger möglichen Organisation des Diskurses beim schriftlichen Verfassen, während ein Sprecher eher auf pragmatische Gesichtspunkte beim Erzählen, wie die Bequemlichkeit, achtet.33 Ein weiterer Grund ist sicherlich, dass in gesprochener Sprache die jeweilige Bedeutung der und-Konjunktionen häufig aus dem Kontext entschlüsselt werden kann.
- Eher aggregativ als analytisch: Dieses Phänomen steht in enger Beziehung zu den Mnemotechniken und Formeln: „Die Elemente des oral geprägten Denkens und Ausdrucks bilden weniger einfache Einheiten als vielmehr Bündel von Einheiten, wie etwa einander entsprechende Ausdrücke, Phrasen, Nebensätze oder antithetische Ausdrücke“34 Diese Formeln bleiben als Redewendungen und Sprichwörter auch in der Literalität häufig erhalten. Bestimmte durch Epitheta verfestigte Klischees werden selbst im analytischen Denken und Ausdruck einer Schriftkultur nicht immer oder nur teilweise hinterfragt werden: „Für alle Zeiten sind die Soldaten tapfer, die Prinzessinnen schön und die Eichen knorrig.“35
Diese Stereotypen erklärt Havelock auch damit, dass sie von Rezipienten schneller und gefälliger aufgenommen, somit im Verlauf einer Erzählung besser memoriert werden können.36
- Redundant oder nachahmend: Beim oralen Vortrag muss der Redefluss stets mit dem
Denken mithalten, diese Kontinuität drückt sich in der Redundanz aus: „Redundanz und Wiederholung des Gesagten halten gleichermaßen den Sprecher wie den Hörer auf dem Pfad des Diskurses.“37 Havelock fügt hinzu, dass neue Information immer in Verbindung mit bereits Gesagtem auftreten muss, er benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff des partial echo: „This something new must occur as a partial echo of something already said“38
Beim Schreiben hingegen verlangsamt sich das Denken, so kann ohne Redundanz relativ viel Information in einem Text verarbeitet werden. Analog dazu kann im schriftlich-visuellen Medium, im Gegensatz zum Vortrag, der Leser jederzeit im Text zurückspringen.
- Konservativ oder traditionalistisch: Orale Kulturen können Wissen nicht durch Schrift
Konservieren und weitergeben, infolgedessen müssen die Wissensbestände durch permanente Kommunikation und wiederholende Erzählung vermittelt, sozusagen ständig am Leben gehalten werden. Ong schlussfolgert daraus:
"Diese Notwendigkeit bildet eine im hohen Maße traditionalistische oder konservative Denkweise aus, die sich aus gutem Grund allen intellektuellen Experimenten widersetzt. Wissen ist schwer zu erringen und kostbar. Die Gesellschaft schätzt jene weisen alten Männer und Frauen, die sich auf die Konservierung des Wissens spezialisieren und die Geschichten aus der alten Zeit zu erzählen verstehen. Die Schrift und mehr noch der Druck bewahren das Wissen außerhalb des individuellen Bewusstseins, sie degradieren dadurch den weisen alten Mann und die weise alte Frau, die Bewahrer des Alten, und bevorzugen gleichzeitig den jungen Entdecker des Neuen."39
Zwar kann die Schrift ebenfalls bewahrende, konservative Effekte haben wie beispielsweise im Niederschreiben von Gesetztestexten; doch diese Möglichkeit der schriftlichen Fixierung von Wissen befreit den Geist von der Gedächtnisarbeit, woraufhin sich dieser auf das Neue richten kann.
Ong geht auch auf Originalität und Autorschaft näher ein, die zwar in literalen Kulturen von großem Stellenwert sind, in oralen Kulturen aber der Partizipation untergeordnet werden:
"Erzählerische Originalität zeigt sich nicht im Erfinden neuer Geschichten, sondern im Geschick, eine besondere Interaktion mit dem Publikum herzustellen. Jedesmal muss die Geschichte schon deshalb auf einmalige Weise einer einzigartigen Situation angepasst werden, weil das Publikum in einer oralen Kultur zum Partizipieren veranlasst werden muss."40
- Nähe zum menschlichen Leben: Orale Kulturen denken immer in möglichst für das menschliche Leben nützlichen Kategorien: Sie erwerben und behalten nur das Wissen, welches lebensnotwendig ist und überführen neues Wissen verbal stets in lebensnahe Muster, Situationen und Metaphern. Literalität und der Text hingegen kann jegliches Wissen räumlich und zeitlich vom Menschen distanzieren, der Mensch lernt zu abstrahieren. „Primäre orale Kulturen haben kein Interesse an der Wissensanhäufung in Form eines abstrakten, selbstgenügsamen Korpus.“41
- Kämpferischer Ton: Der in oralen Kulturen meist stark ausgeprägte tägliche Überlebenskampf schlägt sich auch in der Kommunikation nieder und stellt das Wissen „in einen Kontext des Kampfes.“42 Durch mangelnde Bildung werden zudem beispiels- weise Krankheiten und der Tod nicht rational, sondern häufig persönlich verstanden als von anderen hervorgerufen. Der kämpferische Ton zeigt sich in Schmäh- wie auch Lob- und Preisreden. Zudem tritt der kriegerische und kämpferische Aspekt nicht nur im Aushandeln von Wissen zutage, sondern auch in den Erzählungen selbst, wie beispielsweise der Ilias.
- Eher einfühlend und teilnehmend als objektiv-distanziert: In oralen Kulturen identifiziert sich der Erzähler stets mit dem seinerseits vorgetragenen Wissensstoff, der Vortrag ist meist subjektiv geprägt. Literalität ist eher von Objektivität geprägt, indem sie durch die Trennung von Wissendem und Wissen Raum zur Reflexion schafft.
- Homöostasie: Eine orale Gesellschaft behält nur das Wissen, das sie gerade für lebensnotwendig und tradierenswert erachtet, d.h. sie „bewahrt ihr Gleichgewicht, ihre Homöostasie, indem sie für die Gegenwart irrelevant gewordene Erinnerungen ausscheidet.“43
- Eher situativ als abstrakt: Nicht literalisierte Menschen denken eher konkret und situativ, sie können meist nicht abstrahieren und kategorisieren. Ong beruft sich dabei unter anderem auf eine Studie von A.R. Luria, der Anfang der 1930er Jahre eine Feld- studie mit nicht bzw. wenig literarisierten Personen in Usbekistan und Kirgisien durchführte.44 Dabei stellte Luria beispielsweise fest, dass die Befragten geometrische Figuren nie als solche, sondern immer als konkrete Objekte benannten: Ein Kreis wurde bezeichnet als Uhr, Sieb oder Mond; ein Viereck als Spiegel oder Tür usw. Weiterhin vermochten die Personen keine Kategorien und Klassifizierungen zu bilden, wenn ihnen verschiedene Objekte vorgestellt wurden, von denen eines nicht der gleichen Kategorie angehörte. Sie betrachteten und definierten die Gegenstände im situativen Denken, also nur aus ihrem praktischen Zweck heraus.45
Sekundäre Oralität hingegen bezeichnet die Oralität, die in bereits literarisierten Kulturen durch die elektronischen Medien wieder erstarkt ist: Die elektronische Textverarbeitung und -weitergabe hat nicht wie befürchtet den Druck entbehrlich gemacht, sondern ihn in der Produktion einfacher sowie flexibler gestaltet und dadurch letztendlich gestärkt,46 doch noch viel relevanter für diese Arbeit ist folgende Feststellung: „Gleichzeitig, mit dem Telephon, dem Radio, dem Fernseher, den verschiedenen Klangaufzeichnungsgeräten, hat uns die elektronische Technologie das Zeitalter der ,sekundären Oralität‘ gebracht.“47 Diese Medien haben durch audio-visuelle Vermittlung den Fokus wieder zurück auf das gesprochene Wort gelenkt; war das gesprochene Wort bis dahin nur auf ein zeit- und ortsgleiches Publikum beschränkt, konnte es sich nun an eine theoretisch unbegrenzte Zahl von Empfängern richten.
Ong sieht neben der Präsenz der Stimme weitere Ähnlichkeiten zur primären Oralität, „sowohl was die Mystik der Partizipation, auch was ihre Förderung des Gemeinschafts- sinnes, ihre Konzentration auf die Gegenwart und auf den Gebrauch von Formeln anbelangt.“48
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die sekundäre Oralität nur auf Basis der Literalität entwickeln konnte und enorm von ihr profitiert, in diesem Sinne auch als postliteral verstanden werden kann, genauer gesagt als „eine mehr zufällige und selbstverständliche Oralität, die stets auf dem Gebrauch des Schreibens und Druckens basiert, welche für die Herstellung, die Anwendung und den Gebrauch der elektronischen Ausrüstung notwendig sind.“49 Einerseits begünstigten die technologischen Erfindungen in Form der elektronischen Massenmedien diese sekundäre Oralität, andererseits schienen diese Medien der Menschheit gerade rechtzeitig willkommen als eine Befriedigung der Sehnsucht nach präliteralen Kulturtechniken und -formen:
"Vor der Entwicklung der Schrift waren orale Personen vor allem deswegen gruppenorientiert, weil sich ihnen keine greifbare Alternative eröffnet hatte. In unserer Zeit sekundärer Oralität sind wir auf selbstverständliche und programmatische Weise gruppenorientiert. Das Individuum bemerkt, dass sie oder er als Individuum einen sozialen Sinn entwickeln muss. Ungleich den Mitgliedern einer primären oralen kultur, die deswegen nach außen gerichtet sind, weil sie keine Gelegenheit zur Introspektion besitzen, wenden wir uns nach außen, weil wir schon nach innen gerichtet sind."50
Diese Umkehrung von Folgeerscheinungen der Literalität sieht Ong auch in der wiederkehrenden Spontaneität:
"In gewissem Sinne gilt: Primäre Oralität befördert die Spontaneität, weil ihr die analytische Reflektivität, die das Schreiben mit sich bringt, verschlossen bleibt. Sekundäre Oralität befördert die Spontaneität, weil wir durch analytische Reflexion erkannt haben, dass Spontaneität eine gute Sache ist. Wir planen unsere Happenings sorgfältig, um sicher zu sein, dass sie von Grund auf spontan sind."51
Die Schrift hatte das gesprochene Wort vom Menschen losgelöst, in zeitlicher, räumlicher wie auch in sozio-kultureller Hinsicht, „denn die Konzentration auf ein gesprochenes Wort formt die Hörer zu einer Gruppe, einem wirklichen Publikum, wohingegen das Lesen eines geschriebenen oder gedruckten Textes die Individuen auf sich selbst zurückwirft.“52 Die audio-visuellen elektronischen Medien wiederum überbrücken diese räumlich-zeitliche Trennung. Nicht nur aus Gründen der Anschaulichkeit wählt Marshall McLuhan, einer der bedeutendsten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts in seinen Ausführungen zum Radio den Untertitel „Stammestrommel“:
"Das Radio berührt die meisten Menschen persönlich, von Mensch zu Mensch, und schafft eine Atmosphäre unausgesprochener Kommunikation zwischen Autor, Sprecher und Hörer. Das ist der unmittelbare Aspekt des Radios. Ein persönliches Erlebnis. Die unterschwelligen Tiefen des Radios sind erfüllt vom Widerhall der Stammeshörner und uralten Trommeln. Das ist dem Wesen dieses Mediums eigen, das die Macht hat, die Seele und die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln."53
In seinen Beschreibungen zur sekundären Oralität verweist Ong ebenfalls auf McLuhan und dessen Begriff des „globalen Dorfes“, welches dem Gutenberg-Zeitalter folgen würde. In diesem Dorf seien alle Menschen immer vernetzt durch elektronische Medien, somit räumlich und zeitlich verbunden. Das Kollektiv tritt wieder in den Vordergrund, nachdem die Schrift die Menschen zu Individuen machte.54
Während heutzutage das Internet als stellvertretend für die Idee und Erfüllung des „globalen Dorfes“ gesehen werden kann, sieht McLuhan, der das Internet-Zeitalter nicht mehr miterlebte, schon bei der Verbreitung des Radios solche Tendenzen: „Es [das Radio, d.V.] reduziert auf jeden Fall die Welt auf den Dorfmaßstab und lässt unersättlich dörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichen Bosheiten aufkommen“55
Ong bemerkt in der sekundären Oralität nicht nur viele Paralellen, manche der primär oralen Techniken wie Lebensstil und Denkmuster, vor allem aber die Redekunst, sieht er infolge von gesellschaftlich eingeschliffenen Konventionen und medialen Eigenheiten als verloren an:
"Primäre Oralität lässt sich an dem additiven, redundanten, fein ausgewogenen und äußerst kämpferischen Stil erkennen, am intensiven Zusammenwirken von Redner und Publikum. Am Ende jeder Runde waren die Redner heiser und physisch erschöpft. Heutige Fernsehdebatten mit wichtigen Politikern haben mit dieser alten oralen Welt nichts gemein. Das Publikum ist abwesend, unsichtbar, unhörbar, die Kandidaten werden zur Schau gestellt, geben kurze Statements ab, pflegen steife kleine Unterhaltung untereinander, die jeden aggressiven Impuls sorgfältig aussperren. Elektronische Medien dulden keine Darstellung offener Feindschaften. Trotz ihres sorgfältig gepflegten Images der Spontaneität sind diese Medien völlig vom Geist der Abgeschlossenheit beherrscht, der der Erbschaft des Druckes entstammt: Die Darstellung von Feindseligkeit könnte die Geschlossenheit, die feste Kontrolle aufbrechen. Die Kandidaten passen sich der Psychologie des Mediums an. Höfliche, literalisierte Gepflogenheiten breiten sich aus."56
Im Zuge dieser Arbeit soll unter anderem festgestellt werden, ob Rap diese Konventionen und Gepflogenheiten möglicherweise umgeht bzw. welche oralen Kultur- und Sprech- techniken sich aus der afro-amerikanischen Kulturgeschichte in der postkolonialen Zeit gehalten haben und wie sie im Rap transformiert wurden. Die sekundäre Oralität und die technischen Errungenschaften werden dabei noch eine große Rolle hinsichtlich der Produktionstechniken und der Distributionsmöglichkeiten von Rap spielen.
Im Folgenden sollen einige Grundmerkmale und -Begriffe zu Oralität und Literalität beschrieben werden. Folgende Erläuterungen berufen sich dabei hauptsächlich auf Walter J. Ong,28 den bedeutendsten Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Er prägte zudem den Begriff der sekundären Oralität, die in bereits literarisierten Gesellschaften wieder zum Vorschein kommt und später näher betrachtet wird; zuerst jedoch soll die primäre Oralität vorgestellt werden, also die ursprüngliche Form der Oralität, die in allen Gesellschaften vorherrschte, bevor diese Alphabetisierung und Techniken der schriftlichen Fixierung erfuhren.
Grundlegend für das Denken, nicht nur für die Rede ist die Organisation von Gedanken und Wissen mittels Mnemotechniken und Formeln:
"Um in einer primären oralen Kultur das Problem der Konservierung genau formulierter Gedanken effektiv zu lösen, muss sich das Denken in mnemonischen Mustern vollziehen, die auf unmittelbare orale Darbietung zugeschnitten sind. Die Gedanken müssen in der Form von tief rhythmischen ausgewogenen Mustern entstehen, als Wiederholung oder Antithese, Alliterationen und Assonanzen, Epithetons oder in Form von anderen formelhaften Ausdrücken, eingebunden in standardisierte thematische Anordnungen [...], in Gestalt von Sprichwörtern, die jeder kennt und deswegen rasch erinnert.29"
Havelock beschreibt Rhythmus, die zeitliche Wiederkehr und Abwesenheit bestimmter Dinge als die wesentliche Grundlage für jegliches biologisches Lustgefühl; in Musik und Tanz sieht er weitere Indikatoren für seine These.30
Ong stellt weitere Merkmale und Abgrenzungen zur Literalität vor:31
- Eher additiv als subordinierend: Diese Feststellung deckt sich mit der Unterscheidung von gesprochener und schriftlicher Sprache im anschließenden Kapitel: Während in der gesprochenen Sprache die Parataxe, vor allem die Konjunktion „und“ vorherrscht, überwiegen in der schriftlichen Sprache die Hypotaxe und andere komplexe grammatikalische Strukturen.32 Der Grund hierfür liegt laut Ong in der genauer und länger möglichen Organisation des Diskurses beim schriftlichen Verfassen, während ein Sprecher eher auf pragmatische Gesichtspunkte beim Erzählen, wie die Bequemlichkeit, achtet.33 Ein weiterer Grund ist sicherlich, dass in gesprochener Sprache die jeweilige Bedeutung der und-Konjunktionen häufig aus dem Kontext entschlüsselt werden kann.
- Eher aggregativ als analytisch: Dieses Phänomen steht in enger Beziehung zu den Mnemotechniken und Formeln: „Die Elemente des oral geprägten Denkens und Ausdrucks bilden weniger einfache Einheiten als vielmehr Bündel von Einheiten, wie etwa einander entsprechende Ausdrücke, Phrasen, Nebensätze oder antithetische Ausdrücke“34 Diese Formeln bleiben als Redewendungen und Sprichwörter auch in der Literalität häufig erhalten. Bestimmte durch Epitheta verfestigte Klischees werden selbst im analytischen Denken und Ausdruck einer Schriftkultur nicht immer oder nur teilweise hinterfragt werden: „Für alle Zeiten sind die Soldaten tapfer, die Prinzessinnen schön und die Eichen knorrig.“35
Diese Stereotypen erklärt Havelock auch damit, dass sie von Rezipienten schneller und gefälliger aufgenommen, somit im Verlauf einer Erzählung besser memoriert werden können.36
- Redundant oder nachahmend: Beim oralen Vortrag muss der Redefluss stets mit dem
Denken mithalten, diese Kontinuität drückt sich in der Redundanz aus: „Redundanz und Wiederholung des Gesagten halten gleichermaßen den Sprecher wie den Hörer auf dem Pfad des Diskurses.“37 Havelock fügt hinzu, dass neue Information immer in Verbindung mit bereits Gesagtem auftreten muss, er benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff des partial echo: „This something new must occur as a partial echo of something already said“38
Beim Schreiben hingegen verlangsamt sich das Denken, so kann ohne Redundanz relativ viel Information in einem Text verarbeitet werden. Analog dazu kann im schriftlich-visuellen Medium, im Gegensatz zum Vortrag, der Leser jederzeit im Text zurückspringen.
- Konservativ oder traditionalistisch: Orale Kulturen können Wissen nicht durch Schrift
Konservieren und weitergeben, infolgedessen müssen die Wissensbestände durch permanente Kommunikation und wiederholende Erzählung vermittelt, sozusagen ständig am Leben gehalten werden. Ong schlussfolgert daraus:
"Diese Notwendigkeit bildet eine im hohen Maße traditionalistische oder konservative Denkweise aus, die sich aus gutem Grund allen intellektuellen Experimenten widersetzt. Wissen ist schwer zu erringen und kostbar. Die Gesellschaft schätzt jene weisen alten Männer und Frauen, die sich auf die Konservierung des Wissens spezialisieren und die Geschichten aus der alten Zeit zu erzählen verstehen. Die Schrift und mehr noch der Druck bewahren das Wissen außerhalb des individuellen Bewusstseins, sie degradieren dadurch den weisen alten Mann und die weise alte Frau, die Bewahrer des Alten, und bevorzugen gleichzeitig den jungen Entdecker des Neuen."39
Zwar kann die Schrift ebenfalls bewahrende, konservative Effekte haben wie beispielsweise im Niederschreiben von Gesetztestexten; doch diese Möglichkeit der schriftlichen Fixierung von Wissen befreit den Geist von der Gedächtnisarbeit, woraufhin sich dieser auf das Neue richten kann.
Ong geht auch auf Originalität und Autorschaft näher ein, die zwar in literalen Kulturen von großem Stellenwert sind, in oralen Kulturen aber der Partizipation untergeordnet werden:
"Erzählerische Originalität zeigt sich nicht im Erfinden neuer Geschichten, sondern im Geschick, eine besondere Interaktion mit dem Publikum herzustellen. Jedesmal muss die Geschichte schon deshalb auf einmalige Weise einer einzigartigen Situation angepasst werden, weil das Publikum in einer oralen Kultur zum Partizipieren veranlasst werden muss."40
- Nähe zum menschlichen Leben: Orale Kulturen denken immer in möglichst für das menschliche Leben nützlichen Kategorien: Sie erwerben und behalten nur das Wissen, welches lebensnotwendig ist und überführen neues Wissen verbal stets in lebensnahe Muster, Situationen und Metaphern. Literalität und der Text hingegen kann jegliches Wissen räumlich und zeitlich vom Menschen distanzieren, der Mensch lernt zu abstrahieren. „Primäre orale Kulturen haben kein Interesse an der Wissensanhäufung in Form eines abstrakten, selbstgenügsamen Korpus.“41
- Kämpferischer Ton: Der in oralen Kulturen meist stark ausgeprägte tägliche Überlebenskampf schlägt sich auch in der Kommunikation nieder und stellt das Wissen „in einen Kontext des Kampfes.“42 Durch mangelnde Bildung werden zudem beispiels- weise Krankheiten und der Tod nicht rational, sondern häufig persönlich verstanden als von anderen hervorgerufen. Der kämpferische Ton zeigt sich in Schmäh- wie auch Lob- und Preisreden. Zudem tritt der kriegerische und kämpferische Aspekt nicht nur im Aushandeln von Wissen zutage, sondern auch in den Erzählungen selbst, wie beispielsweise der Ilias.
- Eher einfühlend und teilnehmend als objektiv-distanziert: In oralen Kulturen identifiziert sich der Erzähler stets mit dem seinerseits vorgetragenen Wissensstoff, der Vortrag ist meist subjektiv geprägt. Literalität ist eher von Objektivität geprägt, indem sie durch die Trennung von Wissendem und Wissen Raum zur Reflexion schafft.
- Homöostasie: Eine orale Gesellschaft behält nur das Wissen, das sie gerade für lebensnotwendig und tradierenswert erachtet, d.h. sie „bewahrt ihr Gleichgewicht, ihre Homöostasie, indem sie für die Gegenwart irrelevant gewordene Erinnerungen ausscheidet.“43
- Eher situativ als abstrakt: Nicht literalisierte Menschen denken eher konkret und situativ, sie können meist nicht abstrahieren und kategorisieren. Ong beruft sich dabei unter anderem auf eine Studie von A.R. Luria, der Anfang der 1930er Jahre eine Feld- studie mit nicht bzw. wenig literarisierten Personen in Usbekistan und Kirgisien durchführte.44 Dabei stellte Luria beispielsweise fest, dass die Befragten geometrische Figuren nie als solche, sondern immer als konkrete Objekte benannten: Ein Kreis wurde bezeichnet als Uhr, Sieb oder Mond; ein Viereck als Spiegel oder Tür usw. Weiterhin vermochten die Personen keine Kategorien und Klassifizierungen zu bilden, wenn ihnen verschiedene Objekte vorgestellt wurden, von denen eines nicht der gleichen Kategorie angehörte. Sie betrachteten und definierten die Gegenstände im situativen Denken, also nur aus ihrem praktischen Zweck heraus.45
Sekundäre Oralität hingegen bezeichnet die Oralität, die in bereits literarisierten Kulturen durch die elektronischen Medien wieder erstarkt ist: Die elektronische Textverarbeitung und -weitergabe hat nicht wie befürchtet den Druck entbehrlich gemacht, sondern ihn in der Produktion einfacher sowie flexibler gestaltet und dadurch letztendlich gestärkt,46 doch noch viel relevanter für diese Arbeit ist folgende Feststellung: „Gleichzeitig, mit dem Telephon, dem Radio, dem Fernseher, den verschiedenen Klangaufzeichnungsgeräten, hat uns die elektronische Technologie das Zeitalter der ,sekundären Oralität‘ gebracht.“47 Diese Medien haben durch audio-visuelle Vermittlung den Fokus wieder zurück auf das gesprochene Wort gelenkt; war das gesprochene Wort bis dahin nur auf ein zeit- und ortsgleiches Publikum beschränkt, konnte es sich nun an eine theoretisch unbegrenzte Zahl von Empfängern richten.
Ong sieht neben der Präsenz der Stimme weitere Ähnlichkeiten zur primären Oralität, „sowohl was die Mystik der Partizipation, auch was ihre Förderung des Gemeinschafts- sinnes, ihre Konzentration auf die Gegenwart und auf den Gebrauch von Formeln anbelangt.“48
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die sekundäre Oralität nur auf Basis der Literalität entwickeln konnte und enorm von ihr profitiert, in diesem Sinne auch als postliteral verstanden werden kann, genauer gesagt als „eine mehr zufällige und selbstverständliche Oralität, die stets auf dem Gebrauch des Schreibens und Druckens basiert, welche für die Herstellung, die Anwendung und den Gebrauch der elektronischen Ausrüstung notwendig sind.“49 Einerseits begünstigten die technologischen Erfindungen in Form der elektronischen Massenmedien diese sekundäre Oralität, andererseits schienen diese Medien der Menschheit gerade rechtzeitig willkommen als eine Befriedigung der Sehnsucht nach präliteralen Kulturtechniken und -formen:
"Vor der Entwicklung der Schrift waren orale Personen vor allem deswegen gruppenorientiert, weil sich ihnen keine greifbare Alternative eröffnet hatte. In unserer Zeit sekundärer Oralität sind wir auf selbstverständliche und programmatische Weise gruppenorientiert. Das Individuum bemerkt, dass sie oder er als Individuum einen sozialen Sinn entwickeln muss. Ungleich den Mitgliedern einer primären oralen kultur, die deswegen nach außen gerichtet sind, weil sie keine Gelegenheit zur Introspektion besitzen, wenden wir uns nach außen, weil wir schon nach innen gerichtet sind."50
Diese Umkehrung von Folgeerscheinungen der Literalität sieht Ong auch in der wiederkehrenden Spontaneität:
"In gewissem Sinne gilt: Primäre Oralität befördert die Spontaneität, weil ihr die analytische Reflektivität, die das Schreiben mit sich bringt, verschlossen bleibt. Sekundäre Oralität befördert die Spontaneität, weil wir durch analytische Reflexion erkannt haben, dass Spontaneität eine gute Sache ist. Wir planen unsere Happenings sorgfältig, um sicher zu sein, dass sie von Grund auf spontan sind."51
Die Schrift hatte das gesprochene Wort vom Menschen losgelöst, in zeitlicher, räumlicher wie auch in sozio-kultureller Hinsicht, „denn die Konzentration auf ein gesprochenes Wort formt die Hörer zu einer Gruppe, einem wirklichen Publikum, wohingegen das Lesen eines geschriebenen oder gedruckten Textes die Individuen auf sich selbst zurückwirft.“52 Die audio-visuellen elektronischen Medien wiederum überbrücken diese räumlich-zeitliche Trennung. Nicht nur aus Gründen der Anschaulichkeit wählt Marshall McLuhan, einer der bedeutendsten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts in seinen Ausführungen zum Radio den Untertitel „Stammestrommel“:
"Das Radio berührt die meisten Menschen persönlich, von Mensch zu Mensch, und schafft eine Atmosphäre unausgesprochener Kommunikation zwischen Autor, Sprecher und Hörer. Das ist der unmittelbare Aspekt des Radios. Ein persönliches Erlebnis. Die unterschwelligen Tiefen des Radios sind erfüllt vom Widerhall der Stammeshörner und uralten Trommeln. Das ist dem Wesen dieses Mediums eigen, das die Macht hat, die Seele und die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln."53
In seinen Beschreibungen zur sekundären Oralität verweist Ong ebenfalls auf McLuhan und dessen Begriff des „globalen Dorfes“, welches dem Gutenberg-Zeitalter folgen würde. In diesem Dorf seien alle Menschen immer vernetzt durch elektronische Medien, somit räumlich und zeitlich verbunden. Das Kollektiv tritt wieder in den Vordergrund, nachdem die Schrift die Menschen zu Individuen machte.54
Während heutzutage das Internet als stellvertretend für die Idee und Erfüllung des „globalen Dorfes“ gesehen werden kann, sieht McLuhan, der das Internet-Zeitalter nicht mehr miterlebte, schon bei der Verbreitung des Radios solche Tendenzen: „Es [das Radio, d.V.] reduziert auf jeden Fall die Welt auf den Dorfmaßstab und lässt unersättlich dörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichen Bosheiten aufkommen“55
Ong bemerkt in der sekundären Oralität nicht nur viele Paralellen, manche der primär oralen Techniken wie Lebensstil und Denkmuster, vor allem aber die Redekunst, sieht er infolge von gesellschaftlich eingeschliffenen Konventionen und medialen Eigenheiten als verloren an:
"Primäre Oralität lässt sich an dem additiven, redundanten, fein ausgewogenen und äußerst kämpferischen Stil erkennen, am intensiven Zusammenwirken von Redner und Publikum. Am Ende jeder Runde waren die Redner heiser und physisch erschöpft. Heutige Fernsehdebatten mit wichtigen Politikern haben mit dieser alten oralen Welt nichts gemein. Das Publikum ist abwesend, unsichtbar, unhörbar, die Kandidaten werden zur Schau gestellt, geben kurze Statements ab, pflegen steife kleine Unterhaltung untereinander, die jeden aggressiven Impuls sorgfältig aussperren. Elektronische Medien dulden keine Darstellung offener Feindschaften. Trotz ihres sorgfältig gepflegten Images der Spontaneität sind diese Medien völlig vom Geist der Abgeschlossenheit beherrscht, der der Erbschaft des Druckes entstammt: Die Darstellung von Feindseligkeit könnte die Geschlossenheit, die feste Kontrolle aufbrechen. Die Kandidaten passen sich der Psychologie des Mediums an. Höfliche, literalisierte Gepflogenheiten breiten sich aus."56
Im Zuge dieser Arbeit soll unter anderem festgestellt werden, ob Rap diese Konventionen und Gepflogenheiten möglicherweise umgeht bzw. welche oralen Kultur- und Sprech- techniken sich aus der afro-amerikanischen Kulturgeschichte in der postkolonialen Zeit gehalten haben und wie sie im Rap transformiert wurden. Die sekundäre Oralität und die technischen Errungenschaften werden dabei noch eine große Rolle hinsichtlich der Produktionstechniken und der Distributionsmöglichkeiten von Rap spielen.
( Markus Heide )
www.ChordsAZ.com