Song: Theoretische Grundlagen 3/3
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Artist: Markus Heide
Year: 2013Viewed: 44 - Published at: 2 years ago
2.3. Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Im Folgenden soll das Modell von Peter Koch und Wulf Oesterreicher zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vorgestellt werden.57 Dieses differenzierte Modell wird immer wieder im Verlauf dieser Arbeit aufgegriffen werden; auch die Textauswahl erfolgt zu Teilen auf der Basis des Modells, mit dem das breite und vielfältige Spektrum von Rap hervorragend abgebildet werden kann.
Hinsichtlich des Mediums der Äußerungsform unterscheiden die Autoren nach entweder graphischem Kode oder phonischem Kode. Mit dem jeweiligen Kode muss nicht die gleiche kommunikative Strategie, die sogenannte Konzeption sprachlicher Äußerung einhergehen. Beispielsweise kann ein gesprochener Text durchaus schriftlich entworfen sein und umgekehrt. So ergeben sich mehrere Kombinationsmöglichkeiten mit dem Vorteil, dass das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache nicht mehr streng dichotomisch zu verstehen ist, sondern "für ein Kontinuum von Konzeptionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen steht."58 Folgendes Schema veranschaulicht dieses Kontinuum anhand mehrerer Äußerungsformen:
So stehen in der vorliegenden Abbildung das vertraute Gespräch (a) und die Verwaltungsvorschrift (k) in der größten Polarität: Einmal handelt es sich um phonischen Kode „im Duktus extremer Mündlichkeit“,59 das andere mal um graphischen Kode in der Konzeption streng formeller Schriftlichkeit. Zwischen diesen Polen rangieren weitere beispielhafte, jeweils mehr oder weniger schreib- bzw. sprechbezogene Äußerungsformen: So ist beispielsweise das Tagebuch (e) zwar im Normalfall handschriftlich, also im graphischen Kode festgehalten, der Schreibstil jedoch orientiert sich eher an der privaten Umgangssprache.60 Der Vortrag (i) wiederum ist ein Beispiel für eine phonische Äußerungsform, welche aber im Vorfeld stark schriftlich konzeptioniert wurde.
Koch und Oesterreicher betonen, es seien „Transpositionen aller genannten Äußerungsformen in das jeweils andere Realisierungsmedium immer möglich“.61 So ist das vertraute Gespräch zwar nicht zur Verschriftung intendiert und konzeptioniert, kann aber selbstverständlich – beispielsweise für sprachwissenschaftliche Untersuchungen – ebenso verschriftlicht werden. Analog dazu kann eine Verwaltungsvorschrift auch vorgelesen werden, wechselt somit vom graphischen in den phonischen Kode, bleibt aber konzeptionell schriftlich.
Dieses Modell lässt sich nun weiter differenzieren: Koch und Oesterreicher zeigen, dass sich die Einordnung von Äußerungsformen in dieses Kontinuum aus mehreren kommunikativen Parametern, den Kommunikationsbedingungen, ergibt, die im Folgenden genannt werden;62 zu jedem Punkt werden die Pole extremer Mündlichkeit und Schriftlichkeit exemplarisch gegenübergestellt; dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass zwischen diesen Polen unzählige Abstufungen und Kombinationen möglich sind.
- soziales Verhältnis, Anzahl und räumliche und zeitliche Situierung der Kommunikationspartner: Vertrautheit der Partner vs. Fremdheit der Partner, face-to-face-Interaktion vs. räumliche und zeitliche Trennung
- Sprecherwechsel: freier Sprecherwechsel (Dialog) vs. kein Sprecherwechsel (Monolog)
- Themafixierung: freie Themenentwicklung vs. festes Thema
- Öffentlichkeitsgrad: keine Öffentlichkeit vs. völlige Öffentlichkeit
- Spontaneität: Spontaneität vs. Reflektiertheit63
- Beteiligung: starkes Beteiligtsein vs. keine Beteiligung
- Rolle des sprachlichen, des situativen und des soziokulturellen Kontexts (geteilte Wissensbestände, gemeinsame gesellschaftliche Werte und Normen, etc.): Situationsverschränkung vs. Situationsentbindung64
Neben diesen Kommunikationsbedingungen nennen Koch und Oesterreicher die oft gleichzeitig, nicht aber zwangsläufig mit einhergehenden Versprachlichungsstrategien, die sich aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit ergeben:
- Ein Gespräch entsteht in einem dialogischen Prozess und kann sich somit ständig weiterentwickeln bzw. muss keinen Endpunkt haben, besitzt somit eine Vorläufigkeit, während geschriebene Texte meist abgeschlossen und graphisch festgesetzt, also endgültig und verdinglicht sind.
- Ein geschriebener Text ist meist vom Kontext befreit, kann und muss damit eine höhere Planung aufwenden, die zu höherer Informationsdichte und Komplexität führt, um nicht bekannte Kontexte und nicht vorhandene Situationen elaborativ zu integrieren.
- In der gesprochenen Sprache sind die Kontexte und Situationen häufig gemeinsam geteilt, müssen somit weniger integrierend versprachlicht werden, oder werden, falls nicht bei den Kommunikationspartnern gleichsam vorhanden, im Prozess des Dialogs spontan und ohne großen Planungsaufwand durch Parataxen, Holophrasen und Abtönungs- partikeln versprachlicht.
- In der geschriebenen Sprache wiederum werden hierfür eher Hypotaxen sowie der Nominalstil gebraucht: Zeichen der Komplexität und Kompaktheit eines Textes. Dafür stehen dem Text keine nonverbalen Kommunikationsmittel zur Verfügung wie Gestik, Mimik oder Intonation, welche situative Kontexte erklären und verdeutlichen können, sowie „der Affektivität und Expressivität gerecht werden“,65 die konstituierend für ein Gespräch sind.
Koch und Oesterreicher spannen mit diesen zusätzlichen Merkmalen und Kriterien das vormals zweidimensionale Kontinuum zu einem mehrdimensionalen Raum auf mit den zwei Polen Sprache der Distanz und Sprache der Nähe, auch Text und Diskurs genannt, wie im folgenden Schema zu sehen ist.
Die beiden Dreiecke zeigen die Affinität der jeweiligen Äußerungsformen zum Medium graphischer Kode oder phonischer Kode: Bestimmte Äußerungsformen bevorzugen oder bedingen häufig auch bestimmte Medien bevorzugen bzw. sich nur in diesen Medium voll.66 So gelingt das vertraute Gespräch zum Zweck der Unterhaltung in der Regel nur im phonischen Kode, während das Interview als beispielsweise Radio-Interview wie auch gedrucktes Interview vollkommen üblich und rezipierbar ist. Ein komplexer FAZ-Artikel dagegen wird sicherlich nur schwerlich im phonischen Kode funktionieren bzw. verstanden werden, da er für die Zeitung schritflich konzeptioniert ist.
Für das Thema der Arbeit bedeutet dies folgendes: Rap in der Rezeption bewegt sich, voraussetzend der Annahme, dass Raptexte niemals zum stillen Lesen konzipiert sind, immer im phonischen Kode, egal ob in der Live-Situation, bei der zusätzlich noch nonverbale Kommunikationsmittel auftauchen, oder durch Übertragung mittels audio-visueller Medien.67 Doch die Konzeption im Rap kann variieren: vom frei improvisiertem Rap, der unstrittig die meisten Merkmale der Sprache der Nähe teilt, bis zu den verschiedenen vorgefertigten Beispielraps, die mindestens teilweise im graphischen Kode entstehen. Hierauf wird später im Kapitel zur Liedauswahl nochmals eingegangen. Obiges Modell wird außerdem immer wieder in die Betrachtungen und Analysen mit eingebunden; abschließend soll versucht werden, Rap und die Beispiellieder zwischen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz einzuordnen und voneinander abzugrenzen.
Im Folgenden soll das Modell von Peter Koch und Wulf Oesterreicher zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vorgestellt werden.57 Dieses differenzierte Modell wird immer wieder im Verlauf dieser Arbeit aufgegriffen werden; auch die Textauswahl erfolgt zu Teilen auf der Basis des Modells, mit dem das breite und vielfältige Spektrum von Rap hervorragend abgebildet werden kann.
Hinsichtlich des Mediums der Äußerungsform unterscheiden die Autoren nach entweder graphischem Kode oder phonischem Kode. Mit dem jeweiligen Kode muss nicht die gleiche kommunikative Strategie, die sogenannte Konzeption sprachlicher Äußerung einhergehen. Beispielsweise kann ein gesprochener Text durchaus schriftlich entworfen sein und umgekehrt. So ergeben sich mehrere Kombinationsmöglichkeiten mit dem Vorteil, dass das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache nicht mehr streng dichotomisch zu verstehen ist, sondern "für ein Kontinuum von Konzeptionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen steht."58 Folgendes Schema veranschaulicht dieses Kontinuum anhand mehrerer Äußerungsformen:
So stehen in der vorliegenden Abbildung das vertraute Gespräch (a) und die Verwaltungsvorschrift (k) in der größten Polarität: Einmal handelt es sich um phonischen Kode „im Duktus extremer Mündlichkeit“,59 das andere mal um graphischen Kode in der Konzeption streng formeller Schriftlichkeit. Zwischen diesen Polen rangieren weitere beispielhafte, jeweils mehr oder weniger schreib- bzw. sprechbezogene Äußerungsformen: So ist beispielsweise das Tagebuch (e) zwar im Normalfall handschriftlich, also im graphischen Kode festgehalten, der Schreibstil jedoch orientiert sich eher an der privaten Umgangssprache.60 Der Vortrag (i) wiederum ist ein Beispiel für eine phonische Äußerungsform, welche aber im Vorfeld stark schriftlich konzeptioniert wurde.
Koch und Oesterreicher betonen, es seien „Transpositionen aller genannten Äußerungsformen in das jeweils andere Realisierungsmedium immer möglich“.61 So ist das vertraute Gespräch zwar nicht zur Verschriftung intendiert und konzeptioniert, kann aber selbstverständlich – beispielsweise für sprachwissenschaftliche Untersuchungen – ebenso verschriftlicht werden. Analog dazu kann eine Verwaltungsvorschrift auch vorgelesen werden, wechselt somit vom graphischen in den phonischen Kode, bleibt aber konzeptionell schriftlich.
Dieses Modell lässt sich nun weiter differenzieren: Koch und Oesterreicher zeigen, dass sich die Einordnung von Äußerungsformen in dieses Kontinuum aus mehreren kommunikativen Parametern, den Kommunikationsbedingungen, ergibt, die im Folgenden genannt werden;62 zu jedem Punkt werden die Pole extremer Mündlichkeit und Schriftlichkeit exemplarisch gegenübergestellt; dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass zwischen diesen Polen unzählige Abstufungen und Kombinationen möglich sind.
- soziales Verhältnis, Anzahl und räumliche und zeitliche Situierung der Kommunikationspartner: Vertrautheit der Partner vs. Fremdheit der Partner, face-to-face-Interaktion vs. räumliche und zeitliche Trennung
- Sprecherwechsel: freier Sprecherwechsel (Dialog) vs. kein Sprecherwechsel (Monolog)
- Themafixierung: freie Themenentwicklung vs. festes Thema
- Öffentlichkeitsgrad: keine Öffentlichkeit vs. völlige Öffentlichkeit
- Spontaneität: Spontaneität vs. Reflektiertheit63
- Beteiligung: starkes Beteiligtsein vs. keine Beteiligung
- Rolle des sprachlichen, des situativen und des soziokulturellen Kontexts (geteilte Wissensbestände, gemeinsame gesellschaftliche Werte und Normen, etc.): Situationsverschränkung vs. Situationsentbindung64
Neben diesen Kommunikationsbedingungen nennen Koch und Oesterreicher die oft gleichzeitig, nicht aber zwangsläufig mit einhergehenden Versprachlichungsstrategien, die sich aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit ergeben:
- Ein Gespräch entsteht in einem dialogischen Prozess und kann sich somit ständig weiterentwickeln bzw. muss keinen Endpunkt haben, besitzt somit eine Vorläufigkeit, während geschriebene Texte meist abgeschlossen und graphisch festgesetzt, also endgültig und verdinglicht sind.
- Ein geschriebener Text ist meist vom Kontext befreit, kann und muss damit eine höhere Planung aufwenden, die zu höherer Informationsdichte und Komplexität führt, um nicht bekannte Kontexte und nicht vorhandene Situationen elaborativ zu integrieren.
- In der gesprochenen Sprache sind die Kontexte und Situationen häufig gemeinsam geteilt, müssen somit weniger integrierend versprachlicht werden, oder werden, falls nicht bei den Kommunikationspartnern gleichsam vorhanden, im Prozess des Dialogs spontan und ohne großen Planungsaufwand durch Parataxen, Holophrasen und Abtönungs- partikeln versprachlicht.
- In der geschriebenen Sprache wiederum werden hierfür eher Hypotaxen sowie der Nominalstil gebraucht: Zeichen der Komplexität und Kompaktheit eines Textes. Dafür stehen dem Text keine nonverbalen Kommunikationsmittel zur Verfügung wie Gestik, Mimik oder Intonation, welche situative Kontexte erklären und verdeutlichen können, sowie „der Affektivität und Expressivität gerecht werden“,65 die konstituierend für ein Gespräch sind.
Koch und Oesterreicher spannen mit diesen zusätzlichen Merkmalen und Kriterien das vormals zweidimensionale Kontinuum zu einem mehrdimensionalen Raum auf mit den zwei Polen Sprache der Distanz und Sprache der Nähe, auch Text und Diskurs genannt, wie im folgenden Schema zu sehen ist.
Die beiden Dreiecke zeigen die Affinität der jeweiligen Äußerungsformen zum Medium graphischer Kode oder phonischer Kode: Bestimmte Äußerungsformen bevorzugen oder bedingen häufig auch bestimmte Medien bevorzugen bzw. sich nur in diesen Medium voll.66 So gelingt das vertraute Gespräch zum Zweck der Unterhaltung in der Regel nur im phonischen Kode, während das Interview als beispielsweise Radio-Interview wie auch gedrucktes Interview vollkommen üblich und rezipierbar ist. Ein komplexer FAZ-Artikel dagegen wird sicherlich nur schwerlich im phonischen Kode funktionieren bzw. verstanden werden, da er für die Zeitung schritflich konzeptioniert ist.
Für das Thema der Arbeit bedeutet dies folgendes: Rap in der Rezeption bewegt sich, voraussetzend der Annahme, dass Raptexte niemals zum stillen Lesen konzipiert sind, immer im phonischen Kode, egal ob in der Live-Situation, bei der zusätzlich noch nonverbale Kommunikationsmittel auftauchen, oder durch Übertragung mittels audio-visueller Medien.67 Doch die Konzeption im Rap kann variieren: vom frei improvisiertem Rap, der unstrittig die meisten Merkmale der Sprache der Nähe teilt, bis zu den verschiedenen vorgefertigten Beispielraps, die mindestens teilweise im graphischen Kode entstehen. Hierauf wird später im Kapitel zur Liedauswahl nochmals eingegangen. Obiges Modell wird außerdem immer wieder in die Betrachtungen und Analysen mit eingebunden; abschließend soll versucht werden, Rap und die Beispiellieder zwischen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz einzuordnen und voneinander abzugrenzen.
( Markus Heide )
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