Song: Sudelbuch J 1789 - 1793
Year: 2013
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den 1. Januar 1789.
Vermischte Einfälle, verdaut
und unverdaute Begebenheiten,
die mich besonders angehn.
auch hier und da Exzerpte,
und Bemerkungen, die an
einem andern Ort genauer
eingetragen oder sonst von
mir genützt sind.


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Mutter unser die du bist im Himmel.
[J 8]

Ob ich gleich weiß, daß sehr viele Rezensenten die Bücher nicht lesen, die sie so musterhaft rezensieren, so sehe ich doch nicht ein, was es schaden kann, wenn man das Buch lieset, das man rezensieren soll.
[J 36]

Wenn ich im Traum mit jemandem disputiere und der mich widerlegt und belehrt, so bin ich es, der sich selbst belehrt, also nachdenkt. Dieses Nachdenken wird also unter der Form von Gespräch angeschaut. Können wir [uns] also wundern, wenn die frühen Völker das, was sie bei der Schlange denken, (wie Eva) ausdrücken durch: die Schlange sprach zu mir. Der Herr sprach zu mir. Mein Geist sprach zu mir. Da wir eigentlich nicht gnau wissen, wo wir denken, so können wir den Gedanken hin versetzen, wo wir wollen. So wie man sprechen kann, daß man glaubt, es komme von einem Dritten, so kann [man] auch so denken, daß es läßt, als würde es uns gesagt: Genius Socratis pp. Wie erstaunend Vieles ließe sich nicht durch die Träume noch entwickeln.
[J 156]
Unsere Theologen wollen mit Gewalt aus der Bibel ein Buch machen, worin kein Menschenverstand ist.
[J 262]

Wenn nur der Scheidepunkt erst überschritten wäre! Mein Gott wie verlangt mich nach dem Augenblick wenn die Zeit für mich aufhören wird Zeit zu sein, in dem Schoß des mütterlichen Alles und Nichts, worin ich damals schlief als der Heinberg angespült wurde, als Epikur, Cäsar, Lucrez lebten und schrieben und Spinoza den größten Gedanken dachte der noch in eines Menschen Kopf gekommen ist.
[J 277]

Das Zimmer war ganz leer ein bißchen Sonnenschein aus der zweiten Hand ausgenommen, das auf der Erde lag.
[J 313]

Meine Phantasie scheute, so wie Pferde und lief fort mit mir. Dieses drückt meinen Zustand in der Empfindlichkeit am besten aus.
[J 326]

Eine ganze Milchstraße von Einfällen.
[J 327]

Die Wörter-Welt.
[J 340]

Riechen wieviel Uhr es ist, eine besondere Uhr.
[J 449]

Ein Fisch der in der Luft ertrunken war.
[J 450]

Er hatte ein Paar Stückchen auf der Metaphysik spielen gelernt.
[J 488]
Man kann wirklich nicht wissen ob man nicht jetzt im Tollhaus sitzt.
[J 501]

Eine Art von Gang, als wenn er in seinen Kopf kriechen wollte.
[J 575]

Man hat vieles über die ersten Menschen gedichtet, es sollte es auch einmal jemand mit den beiden letzten versuchen.
[J 677]

Da gnade Gott denen von Gottes Gnaden.
[J 835]

Die Welt jenseits der geschliffenen Gläser ist wichtiger, als die jenseits der Meere, und wird vielleicht nur von der jenseits des Grabes übertroffen.
[J 914]

Seit der Mitte des Jahres 1791 regt sich in meiner ganzen Gedankenökonomie etwas, das ich noch nicht recht beschreiben kann. Ich will nur einiges davon anführen, um künftig aufmerksamer darauf zu werden. Nämlich ein außerordentlich[es] fast zu schriftlichen Tätlichkeiten übergehendes Mißtrauen gegen alles menschliche Wissen, Mathematik ausgenommen, und was mich noch an [das] Studium der Physik fesselt, ist die Hoffnung etwas dem menschlichen Geschlecht Nützliches aufzufinden. Wir müssen müssen nämlich auf Ursachen und Erklärungen denken, weil ich gar kein anderes Mittel sehe uns ohne dieses Bestreben in Tätigkeit zu erhalten. Jemand kann freilich wochenlang auf Jagd gehn und nichts schießen, aber so viel ist gewiß, zu Hause würde er auch nichts geschossen haben und zwar gewiß nichts, da er doch nur auf dem Felde der Wahrscheinlichkeit für sich hat, so gering sie auch sein mag. Wir müssen freilich etwas ergreifen. Aber ob das nun alles so ist, wie wir glauben? Da frage ich mich wieder: was nennst du so sein, wie du es dir vorstellst? Dein Glaube, daß es so ist, ist ja auch etwas, und von dem Übrigen weißt du nichts. Dieses war auch die Zeit, da ich (Gott verzeih mir wenn ich irre) zu glauben anfing, daß die Muscheln in den Bergen gewachsen sein könnten. Es war aber kein positives Glauben, sondern bloß dunkeles Gefühl von unserer Unfähigkeit, oder wenigstens von der meinigen in die Geheimnisse der Natur einzudringen. [J 915]

Die Dachziegel mag manches wissen, was der Schornstein nicht weiß.
[J 918]

In den Kehrichthaufen vor der Stadt lesen und suchen was den Städten fehlt, wie der Arzt aus dem Stuhlgang und Urin.
[J 967]

Als ich im Frühling 1792 an einem sehr schönen Abend am Gartenfenster lag, das etwa 2000 Fuß von der Stadt entfernt ist, war ich begierig zu hören, was nun von dem berühmten Göttingen noch zu meinen Ohren herüber kam, und das war
1) das Rauschen des Wassers bei der großen Mühle
2) das Fahren einiger Wagen oder Kutschen
3) ein sehr helles und emsiges Schreien von Kindern vermutlich auf der Maikäfer-Jagd auf dem Walle
4) Hundegebell in allerlei Distanzen und mit allerlei Stimmen und Affekten
5) 3 bis 4 Nachtigallen in den Gärten nah bei oder in der Stadt
6) unzählige Frösche
7) das Klirren geworfener Kegel und
8) ein schlecht geblasener halber Mond der von allem das Unangenehmste war.
[J 981]
Glitzernde Wörtchen.
[J 1010]

Doppelter Prinz.
Janus und Janus-Tempel, der doppelte Adler. Doppelte Dukaten und Louisd'or. Es ist keine Folge, daß ein doppelter König mehr wert ist, als ein einfacher. Alles Doppelte muß hervorgesucht werden. Verteidigung wegen Leib und Seele, der Mensch sei eigentlich ein doppelter Prinz (wobei nicht bedacht wurde, daß ein solcher Prinz wie Ihre Majestät eigentlich ein vierfacher wäre). Die heilige 3einigkeit darf wohl nicht hereingebracht werden. Das doppelte Buchhalten, ja alles Doppelte aufzusuchen. Duplizität. [J 1119]


Ich möchte wohl wissen, was geschehen würde, wenn einmal die Nachricht vom Himmel käme, daß der liebe Gott ehestens eine Kommission von bevollmächtigten Engeln herabschicken würde, in Europa herumzureisen, so wie die Richter in England, um die großen Prozesse abzutun, worüber es in der Welt keinen andern Richter gibt als das Recht des Stärkeren. Was würde dann aus manchen Königen und Ministern werden? . . .
[J 1126]

Es fehlt nicht viel, so ordnet man Menschen in Rücksicht auf ihre Geistesfähigkeiten, so wie die Mineralien nach ihrer Härte, oder eigentlich nach der Gabe die eines besitzt, das andere zu schneiden und zu kratzen.
[J 1137]

In Frankreich gärt es, ob Wein oder Essig werden wird ist ungewiß.
[J 1223]

An jeder Sache etwas zu sehen suchen was noch niemand gesehen und woran noch niemand gedacht hat.
[J 1248]

Durch das planlose Umherschweifen, durch die planlosen Streifzüge der Phantasie wird nicht selten das Wild aufgejagt, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kann.
[J 1278]

Der Mensch ist ein Ursachen suchendes Wesen, der Ursachensucher würde er im System der Geister genannt werden können. Andere Geister denken sich vielleicht die Dinge unter andern uns unbegreiflichen Verhältnissen.
[J 1279]

Je mehr sich bei Erforschung der Natur die Erfahrungen und Versuche häufen, desto schwankender werden die Theorien. Es ist aber immer gut sie nicht gleich deswegen aufzugeben. Denn jede Hypothese, die gut war, dient wenigstens die Erscheinungen bis auf ihre Zeit gehörig zusammen zu denken und zu behalten. Man sollte die widersprechenden Erfahrungen besonders niederlegen, bis sie sich hinlänglich angehäuft haben um es der Mühe wert zu machen ein neues Gebäude aufzuführen.
[J 1285]

Man muß etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen.
[J 1310]

Ist hier eine gänzliche Revolution möglich?
[J 1311]

Wir sehen in der Natur nicht Wörter sondern immer nur Anfangsbuchstaben von Wörtern, und wenn wir alsdann lesen wollen, so finden wir, daß die neuen sogenannten Wörter wiederum bloß Anfangsbuchstaben von andern sind.
[J 1346]

( Georg Christoph Lichtenberg )
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